Poor Things (2023) | Film, Trailer, Kritik (2024)

    Poor Things (2023) | Film, Trailer, Kritik (1)
    • Festivalkritik
    • Handlung

    Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

    Becoming Bella Baxter

    Die Werke des griechischen Filmemachers Yorgos Lanthimos, von „Dogtooth“ (2009) über „The Lobster“ (2015) bis hin zu „The Favourite“ (2019), sind stets zugleich extrem verstörend und unverschämt komisch. Düstere und absurd-witzige Ungeheuerlichkeiten, ungemein klug und überdreht. Mit dem Drehbuch zu „Poor Things“ von Tony McNamara, basierend auf dem gleichnamigen Roman des 2019 verstorbenen schottischen Schriftstellers Alasdair Gray, hat Lanthimos einen Stoff gefunden, der perfekt zu seinem sehr speziellen Humorverständnis passt und ihm die Möglichkeit bietet, eine Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen, die lustvoll und neugierig Genres und Kontinente durchschreitet – ganz ohne Furcht und Grenzen.

    Poor Things beginnt mit einem hochdramatischen, von wuchtigen Klängen begleiteten Bild unter finster-bewölktem Himmel. Eine Frau mit langem pechschwarzem Haar steht in einer edlen königsblauen Robe auf einer Brücke – und stürzt sich in die Tiefe. Es folgen einige Passagen in Schwarz-Weiß, ehe die satten Farben in die Aufnahmen zurückkehren. Die junge Bella Baxter (Emma Stone) malträtiert in einem imposanten und doch ziemlich eigenwillig anmutenden Londoner Domizil ein Klavier, während der auffällig entstellte Hausherr Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) die Szenerie betritt.

    Wir erleben die beiden beim gemeinsamen Abendessen. Godwin, genannt „God“ (!), ist mit Schläuchen verbunden und erzeugt aus seinem Mund heraus eine Blase, die durch den Raum schwebt und zerbirst; Bellas (Ess-)Verhalten lässt an ein kleines Kind denken. Auf dem Anwesen tummeln sich neben der grimmigen Bediensteten Mrs. Prim (Vicki Pepperdine) diverse bizarre Wesen, etwa eine Kreuzung aus Huhn und Schwein.

    Mit Max McCandless (Ramy Youssef) lernen wir die absonderliche Welt des Vater-Tochter-ähnlichen Duos besser kennen, als der angehende Mediziner zum Assistenten des Wissenschaftlers und Chirurgen Godwin wird. Angeblich ist Bella eine Waise mit Hirnschädigung – was indes nicht der Wahrheit entspricht, wie sich bald offenbart. Max soll Bella studieren und findet sie rasch atemberaubend. Als eine Ehe zwischen Max und Bella geschlossen werden soll, kommt der Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) ins Spiel, der Bella allerdings dazu überreden will, zusammen mit ihm durchzubrennen. Godwin lässt sein „Kind“ ziehen – und so bereist Bella Lissabon, Alexandria und Paris. Dabei wächst sie wiederholt über sich hinaus.

    Während die 1992 veröffentlichte literarische Vorlage über mehrere Perspektiven und Nebenschauplätze verfügt, konzentriert sich der Film auf Bella. Diese ist anfangs gewissermaßen eine Gefangene, ein „Experiment“ des narzisstischen Forschers Godwin. Die Beziehung erinnert an Victor Frankenstein und dessen Kreatur – wenngleich es hier der Wissenschaftler ist, der das erschreckende Äußere hat. Godwin selbst trägt, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne, Narben von den Versuchen, die sein missbräuchlicher Vater mit ihm unternommen hat. Das Verhältnis zwischen ihm und Bella ist, wie vieles in Poor Things, deutlich komplexer, als es zunächst scheinen mag.

    Bellas Reise ist zum einen visuell überaus faszinierend. Die Handlung ist im Viktorianischen Zeitalter angesiedelt. Doch Lanthimos und sein Kreativteam erschaffen einen überbordenden (Studio-)Kosmos, der eher wie eine in der damaligen Ära verankerte Zukunftsvision wirkt – wie ein Science-Fiction-Film von Federico Fellini oder eine entschieden derbere, groteskere Variante des Ballettfilms Die roten Schuhe (1948) von Michael Powell und Emeric Pressburger. Mit heutigen Augen ließe sich zudem eine Parallele zu Greta Gerwigs Barbie (2023) und der darin entworfenen Fantasiewelt herstellen – auch wenn klar ist, dass die beiden Produktionen kaum voneinander beeinflusst sein können. Die von Kameramann Robbie Ryan auf 35mm-Film gedrehten Bilder sind voller Ideen und Skurrilitäten, die wiederum nichts Selbstzweckhaftes haben, sondern im Dienste der Geschichte stehen. Der Geschichte von Bella.

    Denn zum anderen ist Poor Things eine wunderbar facettenreiche Emanzipationserzählung. Bellas Reisebegleiter Duncan, den Mark Ruffalo ohne Eitelkeit und mit riesiger Spielfreude absolut brillant verkörpert, gibt sich liberal und behauptet, Bella als Freigeist zu schätzen, erweist sich mit seiner kontrollierenden Art aber schnell als egoistisch und misogyn. Die Protagonistin macht Erfahrungen mit körperlichen und geistigen Genüssen, von Sex über Essen und Alkohol bis hin zu Musik, Tanz und Literatur. Die ältere Martha Von Kurtzroc (Hanna Schygulla) vermittelt ihr weibliche Solidarität; der Zyniker Harry Astley (Jerrod Carmichael) konfrontiert sie mit Armut und Elend und mit ihrem eigenen privilegierten Dasein. Beim Sexworking in einem Pariser Bordell testet sie ihre Grenzen und Vorlieben aus und schließt Freundschaft mit ihrer sozialistischen Kollegin Toinette (Suzy Bemba).

    Der Film vereint Grausamkeit und Wärme. Er bricht unsere Herzen, während wir lachen. Und mittendrin liefert Emma Stone eine unfassbar großartige und vielschichtige Leistung. Sie lässt ihre Figur vor unseren Augen eine emotionale und intellektuelle Entwicklung durchlaufen und ist dabei gänzlich furios und formidabel.

    Gesehen bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig.

    Von Filmemacher Yorgos Lanthimos und Produzentin Emma Stone kommt die phantastische Geschichte von Bella Baxter (Emma Stone), einer jungen Frau, die von dem ebenso brillanten wie unorthodoxen Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) von den Toten zurück ins Leben geholt wird. Unter Baxters Anleitung und Schutz ist Bella begierig, zu lernen. Sie ist hungrig auf das Leben und die Lebenserfahrung, die ihr fehlt. Mit Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo), einem raffinierten und verrufenen Anwalt, bricht sie zu einem rasanten Abenteuer über die Kontinente auf. Sie befreit sich immer mehr von den Zwängen und Vorurteilen ihrer Zeit und wächst zunehmend in ihrer Entschlossenheit, für Gleichheit und Freiheit einzutreten.

    • Kommentare
    • Trailer
    • Bilder

    Ähnliche Filme

    • The Favourite - Intrigen und Irrsinn (2018)

    • Bleat (2022)

    • Nimic (2019)

    Weitere Filme von

    Yorgos Lanthimos

    • The Favourite - Intrigen und Irrsinn (2018)
    • The Killing of a Sacred Deer (2017)

    Weitere Filme mit

    Emma Stone

    • Cruella (2021)
    • Zombieland 2: Doppelt hält besser (2019)

    Alle 23 Filme anzeigen

    Willem Dafoe

    • Nosferatu (2024)
    • Inside (2023)

    Alle 38 Filme anzeigen

    Mark Ruffalo

    • Vergiftete Wahrheit (2019)
    • Avengers - Endgame (2019)

    Alle 19 Filme anzeigen

    Christopher Abbott

    • Kraven the Hunter (2024)
    • Possessor (2020)

    Alle 5 Filme anzeigen

    Jerrod Carmichael

    • Mid90s (2018)
    • Mit besten Absichten

    Meinungen

    Elke · 19.02.2024

    Der Film war wunderbar verstörend und ich würde ihn gern noch einmal sehen.
    Wie lange mag er noch laufen, falls ich es diese Woche nicht schaffe? 🤔

    • Antworten

    Fray · 03.02.2024

    Bester Film seit Jahren!
    Gut, man muss aufpassen und mitdenken.
    Wer vorm Deutsch oder Englisch-LK zurückgeschreckt ist, schaut lieber was seichteres.

    • Antworten

    Panagiotis Makridis · 01.02.2024

    Endlich habe ich „Poor Things“ von Lanthimos gesehen, einen erstaunlichen, aber seltsamen Film zugleich.
    Eine Frau, die mit dem Gehirn ihres eigenen Kindes aufwächst, vom Säuglingsalter zum erotischen Erwachen übergeht und durch einen ständigen Kampf um Befreiung ihren eigenen Ethikkodex entwickelt.
    Eine Skizze der menschlichen Seele, angefangen von einem vom Instinkt dominierten Urzustand bis zu ihrer Vollendung und irgendwo im Höhepunkt, in Würde, Emotion und dem Wunsch nach Freiheit, Triumph.

    Voller Symbolik, die sogar auf den Maschinengott der antiken Tragödie verweist.
    So interpretierte ich zumindest die Rolle der Schöpferin von Bella Baxter, die ein unglückliches Dasein in ein Wesen mit Gefühlen verwandelte.

    Tragen wir schließlich alle Bella Baxter, die Heldin des Stücks, in uns?
    Haben wir nicht alle Mühe, unsere Bindungen zu lösen, die wir entweder Leidenschaften oder Bedauern nennen, uns quälen und uns daran hindern, die Wahrheit zu erkennen?
    Bella Baxter hat es gewagt, den Menschen in die Augen zu schauen.🤔

    Ich kann sie wärmstens empfehlen 🫶

    • Antworten

    Okto · 20.01.2024

    Völlig an den Haaren herbeigezogener nerviger Schwachsinn, der mit geschmacklosen Ekel-Elementen befremden? schockieren? oder was auch immer erreichen will...Wäre ich körperlich oder geistig behindert, ich würde mich derart verunglimpft fühlen.
    Nach 30 Minuten musste ich gehen, weil ich es nicht mehr aushalten konnte.

    • Antworten

    Ross Campbell · 23.01.2024

    Nicht für Arties, Lefties, or virture signaling Snobs. Wenn Sie zu denen gehören, die gegangen sind, fordere ich Sie auf, das Buch Blumen für Algernon zu lesen. Es ist definitiv eine Leistung und ich habe seit zwanzig Jahren keine davon im Kino gesehen.

    • Antworten

    Fray · 03.02.2024

    Berieseln lassen kann man sich nicht, das ist richtig.
    Man muss schon nachdenken wollen.

    • Antworten
    Poor Things (2023) | Film, Trailer, Kritik (2024)

    References

    Top Articles
    Latest Posts
    Article information

    Author: Pres. Carey Rath

    Last Updated:

    Views: 5758

    Rating: 4 / 5 (41 voted)

    Reviews: 80% of readers found this page helpful

    Author information

    Name: Pres. Carey Rath

    Birthday: 1997-03-06

    Address: 14955 Ledner Trail, East Rodrickfort, NE 85127-8369

    Phone: +18682428114917

    Job: National Technology Representative

    Hobby: Sand art, Drama, Web surfing, Cycling, Brazilian jiu-jitsu, Leather crafting, Creative writing

    Introduction: My name is Pres. Carey Rath, I am a faithful, funny, vast, joyous, lively, brave, glamorous person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.